„langsames diesseits. vier monologe“

Ein Film von Siegfried Ressel und Hannes Richter

Annäherungen und Reflexionen zum Film

 

Es beginnt mit einer leeren Fläche. Betritt man das Gelände der KZ Gedenkstätte Buchenwald durch das Haupttor stößt man auf Leere. Auf eine leicht abschüssige Ebene, die mit nichts außer Schotter bedeckt ist. In der Ferne ist bei guter Sicht der bläuliche Südharz zu sehen und im Mittelgrund ein Windpark, der auf einen ökologisch werterhaltenden Alltag schließen lässt. Hier jedoch, auf dem Appellplatz von Buchenwald, ist nichts alltäglich. Hier war nie etwas „alltäglich“ im Sinne eines selbstbestimmten, vorzugsweise gemütlichen Lauf des Lebens, denn zwischen 1938 und 1945 herrschten hier Mord und Totschlag der NS Vernichtungspolitik.

Diese leere Fläche ist eine Provokation. Keine freundliche Einladung. Kein Willkommen, nirgendwo. Sie war/ist unser gedanklicher Ausgangspunkt von mittlerweile 3 Filmen und einem Rundfunkfeature. Alle diese Arbeiten drehen sich um die heutige, also scharfkantig gegenwärtige Frage nach der Darstellbarkeit, Vermittelbarkeit des nationalsozialistischen Terrors gegen Andersdenkende, Andersseiende, Widerständler, Menschen anderer Nationalitäten, Sinti, Roma und Juden; der Terror mündete in Vernichtung, für beides –Terror und Vernichtung – schuf man innert kürzester Zeit Verbrechensorte, die Konzentrationslager, für die man schnell eine verwaltungstechnische Abkürzung fand: „KL“; später verselbstständigt zu „KZ“.

Die Leere als fremdes Land, als offenes Territorium, als schroffe Verschotterung. Als KZ-Gedenkstätte. Als Wahrnehmung.

Leere, die als Leere nach dem Zivilisationsbruch kommen muss. Wie der Knall nach dem Durchbrechen der Schallmauer.

Der erste Drehzyklus des gleichzeitig ersten Films unserer Buchenwald Trilogie  – „Buchenwald. Nächste Generation“ ­ ­– umkreiste beobachtend die April-Feierlichkeiten zum 75jährigen Jubiläum der Befreiung des KZs im Jahre 2015. Im Nachhinein gesehen ein Glücksfall, denn wir drehten gewissermaßen „ohne Auftrag“, ohne Termindruck, ohne Interviewverabredungen. Was wir sahen und filmten, war die ausgelassene Stimmung von über Achtzigjährigen, die bei frühsommerlichem Wetter anscheinend auf Klassenfahrt waren, mit Pferdekutschen durch Weimar fuhren, sich im Foyer des „Elefanten“ umarmten, viel zu bereden hatten und es sich gut gehen ließen. Diese Menschen waren in der Mehrzahl die Überlebenden, die „ehemaligen Häftlinge“ und ihre Angehörigen. Dazu einige G.I.`s in Veteranenuniformen welche zu den Befreiern zählten.

Was eindrücklich von den Tagen in Erinnerung bleibt, ist unter anderem die improvisierte Ansprache des damaligen Buchenwalder Gedenkstättenleiters Volkhard Knigge zur Eröffnung eines zwanglosen Diskussions- und Begegnungsabends im Weimarer Nationaltheater vor dem im Halbkreis stehenden jungen Publikum: „Fragen Sie“, ermunterte Knigge sinngemäß, „diskutieren Sie, nehmen Sie die Überlebenden als Diskurspartner wahr. Hören Sie zu, seien Sie betroffen, aber vergessen Sie bitte das Leben nicht. Genießen Sie diesen Abend, verlieben Sie sich, und warum denn auch nicht?“

Es war alles da, was uns die nächsten Jahre begleiten würde: Weimar, Buchenwald, die Leute von der Gedenkstätte, Volkhard Knigge; die Stimmungen, mal ausgelassen, mal feierlich, das schöne Wetter, das den ehemaligen Vernichtungsort auf dem Ettersberg konterkarierte. Nur einer fehlte: Ivan Ivanji. Eigentlich war uns lange vor diesen Feierlichkeiten Ivan als „der“ Überlebende von der Gedenkstätte für unsere Filmarbeit empfohlen und vermittelt worden. Ivan Ivanji, Auschwitz- und Buchenwaldhäftling, serbischer Schriftsteller, der hervorragend deutsch spricht und in Belgrad lebt. Ein unsere Begegnung in Weimar vorbereitender E-Mail-Austausch mit ihm entspann sich, alles schien klar, jedoch: Ivan kam nicht. Seine Frau Dragana starb am 11. April, am Befreiungstag von Buchenwald.

Ein halbes Jahr später ermöglichte uns Volkhard Knigge einen mehrtäglichen Besuch bei Ivan Ivanji in Belgrad. Hochsommer. Die fremde, in der Sommerhitze flimmernde Stadt mit Gerüchen, Sprachfetzen, Häuserfassaden, abblätternden Reklamemalereien aus mehreren Epochen, Kiosken, dunklen Kneipen und Straßencafé`s wie man sie nur in Osteuropa findet.

Ivan. Wie wird man Freunde? Dieser gleitende Prozess von grundsätzlicher Sympathie füreinander bis hin zu selbstverständlicher Nähe, genährt durch den Austausch von Mails, und weiteren Besuchen in Belgrad, Begegnungen hier und dort, auch mehrmals in Weimar und Buchenwald. Und immer noch vermögen lange Gespräche über Bücher (kein Wunder, da Ivan Schriftsteller und Übersetzer ist) einen gemeinsamen in sich geschlossenen euphorisierenden Resonanzraum unter Gleichgesinnten zu erzeugen, es ist mittlerweile fast ein Wunder.

Wer zu Ivan Ivanji kommt, betritt eine Wohnung voller Bücher, und zwar voller deutscher Bücher; er ist ein Goethe-Kenner, hat Brecht und Grass übersetzt, liebt Biographien deutscher Politiker; viele seiner Bücher hat er zuvorderst in deutsch geschrieben. Und ess gibt auch eine Vitrine mit Schnaps, ein ganz besonderer hat auf dem Etikett das Konterfei von Toto, dessen Dolmetscher ins Deutsche Ivan Ivanji eine Zeit lang gewesen ist.

An den Wänden hängen einige Bilder, die Ivans Eltern zeigen, Juden, ermordet von den Deutschen während der Okkupation.

Ich bin sicher, Volkhard Knigges Bitte, ehemalige Häftlinge vor allem als Diskurspartner wahrzunehmen, anzusprechen, hat uns Mut gemacht, die naturgemäße Scheu schnell zu überwinden, und Ivan ist der Diskurspartner schlechthin: er „jammert nicht“, wie er von sich selbst behauptet – deshalb zeugen die meisten seiner schriftstellerischen wie essayistischen Arbeiten, die er bis heute in regelmäßiger, nicht versiegender Folge produziert von „Diskurs“, von Auseinandersetzung, Reibung und dem Versuch der Erklärung und zugleich der Benennung von Verantwortlichkeit. Es entstehen von ihm / durch ihn Denkmaterialien, in direkter oder indirekter Weise ausgehend vom Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts, die für mich immer bereits ein thematischer Vorgriff auf den nächsten Besuch, die nächste Begegnung mit ihm sind: man kommt unvermeidlich mit neuen Fragen zu Ivan Ivanji nach Belgrad.

Dieser Diskurs wandelt sich allmählich in eine Lebensteilhabe, das eine ergänzt das andere. Kreise dehnen sich: der gemeinsame Besuch der Vaterstadt und des früheren Elternhauses, Erkundungen von Restaurants und Buchhandlungen, das Erleben von Lesungen. Kleine Hilfestellungen, Freundschaftsdienste. Der Blick des Besuchers, mittlerweile des Freundes, weitet sich auf das Leben des anderen. In Ivans Fall auf das Leben als Holocaustopfer, auf das Leben eines „ehemaligen Häftlings“, auf das Leben als Schriftsteller, Ex-Jugoslawe, Vater, Witwer undsoweiter. Dabei eine Erkenntnis: es wird weitergelebt. Es gibt einen Alltag, ein Berufs- und Familienleben. Einkäufe, Ausflüge, Urlaubsreisen.

Aber es gibt nie ein „normales“ Leben. Kein genügsames Rentnerdasein. Zahava Stessel, ebenfalls Protagonistin unseres Films, spricht es aus: „Der Holocaust ist in einem, was immer du machst. Es gibt niemals eine Befreiung davon.“ Ist es das, was der Schriftsteller Imre Kertész meinte, wenn er von „Schicksallosigkeit“ schrieb? Jene „Schicksallosigkeit“, die Kertész seinem alter ego György Köves nach dessen Überlebenserfahrungen von Auschwitz und Buchenwald andichtete und damit zugleich ein happy ending kategorisch ausschloss? Vermutlich.

Selbstvertrauen und Mut gefasst – auch ob der Erfahrung von mittlerweile 2 Buchenwaldfilmen (hinzu kam „Der Mensch ist ein schöner Gedanke. Volkhard Knigge und Buchenwald“) – brachten uns zu der Entscheidung für einen dritten Film, den wir – nunmehr fertiggestellt – „langsames diesseits. 4 monologe“ nennen. Das filmische Anliegen war, das späte Leben von vier Auschwitz- und Buchenwaldüberlebenden im Gegenwärtigen zu „zeigen“, ein Leben „danach“ gewissermaßen vor der Kamera und später auf der Leinwand – oder auf dem Bildschirm als schwächere Option – vorüberfließen zu lassen. Dabei die klassische Interviewsituation vis-a-vis vor der Kamera größtenteils ausschließend; sie kam uns in diesem Fall abgenutzt und unangebracht, das unvermeidliche entsprechende Setting als Stressfaktor vor. Insofern sind die im Film zu hörenden monologischen Reflexionen unserer ProtagonistInnen das Ergebnis der von uns geführten Audio-Interviews.

Die Gedenkstätte Buchenwald vermittelte uns dankenswerter Weise den Kontakt zu Zahava Stessel aus Brooklyn / New York und zu Alexander Bytschok, der in Kiew lebte. Unsere Kollegin und Freundin Agnès Triebel führte uns zu Raymond Renaud ins Burgund. Ivan Ivanji war selbstverständlich „gesetzt“.

Es ist zuvorderst von einer Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit seitens „unserer“ ProtagonistInnen zu berichten, die uns nahezu unannehmbar vorkam und die uns – wie soll man sagen? – erschütterte, uns ergriff; wir fühlten uns vertraut und willkommen. Wie konnten wir das rechtfertigen? Was können wir zurückgeben? „You are a good listener.“ sagte Zahava öfter. Ein guter Zuhörer, und darum geht es: ums Zuhören. Hier als Zuhörer an Lebenserinnerungen teilhaben, welche sich in fundamentalster Weise von den eigenen unterscheiden. Die vielmals dahergeredete „Unvorstellbarkeit“ im Kontext der NS Tötungsverbrechen zerfließt spätestens hier, beim Zuhören, zu einer oberflächlichen gedankenlosen Phrase. Denn nichts ist unvorstellbar. Alles ist passiert. Noch gibt es Zeugen.

Unterschiedliche Lebenswelten: auf unheimliche Weise vertraut das Brooklyn von Zahava, das sich mit seinen Stelzen der oberirdischen Subway sofort als Scorsese-Country zu erkennen gibt, wenngleich die unmittelbare Nähe des Meeres so nicht in der eigenen inneren Bildwelt parat gewesen ist. Überhaupt nicht vertraut hingegen das verregnete Kiew mit der dort erfahrenen Rücksichtslosigkeit im Gegeneinander der Citoyenne, wo uns Alexanders kleine Wohnung wie ein rettendes Obdach und er selbst uns wie ein cooler findiger fröhlicher Held inmitten einer ignoranten unzivilisierten Welt vorkamen. Und dann wieder ein anderes Universum: Raymonds Haus mit seiner hundert Jahre alten Holzwerkstatt, mit seinem betörenden Garten, alles erinnernd an die phantastischen Imaginationen des Zöllners Henri Rousseau.

Verlust und Zeugenschaft, so könnte man die zwei Pole im Leben „danach“ der Vier versuchshalber benennen. Verlust: der der Eltern, der Jugend, der Gewissheiten, der Heimat, des Elternhauses und Geburtslandes – diese Aufzählung ist naturgemäß unvollständig. Zeugenschaft: sie werden gefragt, sie geben Antwort. Und mehr als das: wir erlebten Raymond und Ivan vor ihrem jeweiligen Publikum als Vortragende, Berichtende, als „Zeitzeugen“ und sie trafen mitten in die Herzen der Zuhörenden. Auch Zahava und Ivan erzählten uns von Schul- und Studentenprojekten und lokalen Initiativen vor denen sie redeten, auftraten. Und es gibt die Kontakte zu Schulklassen in Deutschland. Zahava und Ivan schrieben und schreiben Bücher, Zahava noch dazu eine Dissertation über das schrecklich Erlebte; Zeugenschaft als Lebensmotiv. Anschreiben gegen die Schicksallosigkeit – eine Vermutung.

Die Stille der Orte: die Bücherregale in Ivans Belgrader Hochhauswohnung; die vielen Familienfotos und die bunte Blumenwelt in Zahava`s Haus; der Reichtum einer archaisch anmutenden Werkstattwelt bei Raymond; an der Wand und in der Vitrine der Kiewer Wohnung bunte Fotografien, die Alexander als glücklichen Menschen zeigen.

 

 

 

Siegfried Ressel, April 2021

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TRISTAN 1993

Gestern hatte mein Kind einen fremden Blick

Eine Schreckensnachricht einen Werbespot lang

In den Augen meines Kindes las ich

Der zu viel gesehen hat die Frage

Ob die Welt die Mühe des Lebens noch aufwiegt

Einen Augenblick eine Schreckensnachricht

Einen Werbespot lang war ich im Zweifel

Soll ich ihm ein langes Leben wünschen

Oder aus Liebe einen frühen Tod

 

Heiner Müller