Wir erlebten Alexander zum ersten Mal 2015 zum 70. Jubiläum der Befreiung von Buchenwald. Wie ein Irrwisch (Alexander war klein und schmal) bahnte er sich durch Gruppen flanierender Teilnehmer der gerade zu Ende gegangenen Gedenkfeier auf dem Appellplatz des Lagergeländes seinen Weg zum Schotterfeld, das den Grundriss seines ehemaligen Blocks darstellt, und umarmte heftig und lange den Granitstein mit der Nummer 45, der den Block markiert. „Mein“ Block“. „Mein Block“, wimmerte Alexander während dieser seltsamen Umarmung; Pressefotografen und Kameraleute lichteten dankbar diese spektakuläre Szene ab, zumal er auch noch die grau-blau gestreifte Häftlingskleidung trug. Das Ganze war, ich kann es nicht anders sagen: schräg. Es passte absolut nicht zu der naturgemäßen Getragenheit und Seriosität dieser jährlich im April stattfindenden Feier. Ja, es hatte etwas Verstörendes, eine Narretei, die man von offizieller Seite tolerierte, weil ehemalige Häftlinge selbstverständlich ihre persönliche Form des Gedenkens auf dem Ettersberg ausleben dürfen.
Fünf Jahre später in Kiew. Wir hatten Alexander Bytschok als einen der vier Protagonisten unseres Films „langsames diesseits. vier monologe“ ausgewählt, die Gedenkstätte Buchenwald hatte den Kontakt vermittelt, Iwan Nemitscheff –unser Dolmetscher– die Hotelzimmer in Kiew gebucht. Drei Tage Dreh mit Alexander Anfang Februar 2020. Schneeregen. Unendlicher Verkehr, der durch die tiefen Pfützen der Straßen prescht. Schamlos goldlackierte SUVs, ächzende Lieferwagen, überfüllte Busse. An den Straßenrändern Händler, die Kleinigkeiten anbieten: von Gebrauchsgegenständen über Eingemachtes bis zu lebenden Karpfen, ist so ziemlich alles dabei. Der Ernst des ukrainischen Lebens. Takaja Zhizn.
Eine Wohnsiedlung Anfang der 1960er Jahre gebaut; ockerfarbene Ziegelbauten, vier, fünf Stockwerke hoch und in unmittelbarer Nähe zur Schlucht von Babyn Jar, in der die deutsche Wehrmacht 1941 das größte einzelne Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg verübte: 33.000 ermordete jüdische Frauen, Kinder und Männer.
Alexander ist kein Jude. Er wurde 1942 bei einer Razzia der deutschen Okkupanten in Kiew gefangen genommen und als „ukrainischer Fremdarbeiter“ zwangsweise nach Deutschland geschickt, wo er unter unmenschlichen Bedingungen bei Worbis in einer Mühle schuften musste. Er floh mit einem Kameraden – vergeblich. Zur Strafe landete Alexander im KZ Buchenwald, Häftlingsnummer 2216, Arbeitskommando u.a. Gustloff-Werke. Er überlebte. In den Arolsen Archives findet man seine Häftlingskarteien unter dem Namen Bitschok, Alexander. Man erfährt, dass er als Kind Scharlach hatte, im April 1944 drei Tage Schonung wegen TBC bekam und wegen einer Risswunde am rechten Daumen fünf. Mal wurde er als Schlosser, mal als Friseurlehrling in der Arbeitsstatistik des KZs karteimäßig erfasst.
Mit derselben Behändigkeit, wie wir ihn in Buchenwald erlebt hatten, springt, hastet, hangelt sich Alexander durch seine winzige Einzimmerwohnung mit Küche, Bad und einer verglasten Veranda für Zimmerpflanzen und Konserven. Hinter seiner Bettcouch zaubert er einen Klapptisch hervor für Speck, Wurst, Eingelegtes, Salat, Wodka undsoweiter. Sprudelnde, kaskadenartig vorgetragene Lebenserzählungen unterstreicht er mit seiner vogelhaft davonfliegenden Mimik und Gestik. Iwan, der Dolmetscher, bändigt und zieht gerade.
Als er von Buchenwald 1945 nach Kiew zurückkehrte, erkannte ihn die Mutter nicht. Aus Mitleid gab sie dem fremden Besucher Suppe, die sie eigentlich ihrem Hund bereitet hatte. Es folgten Jahre der Improvisation: Keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung für Kiew, keine Arbeit, es gibt kaum etwas zu kaufen. Das Land, die Sowjetunion, ist kriegszerstört. Dann im Donbass Schwerstarbeit beim Gleisbau. Dort lernte er Anna, seine zukünftige Frau, kennen, die eigentlich einen anderen heiraten wollte, aber dieser Bräutigam verschwand spurlos. Alexander und Annas erste gemeinsame Behausung war ein Güterwagon an der Baustelle.
1950 wurde dieTochter Nadezhda geboren, zehn Jahre später –Alexander arbeitete mittlerweile in einem Werk für medizinische Geräte in Kiew– erhielt er für sich und seine Familie die Einzimmerwohnung. Die Wohnblöcke waren noch nicht fertig, er hatte beim Bau zu helfen. Dass er die Wohnung überhaupt zugewiesen bekam, verdankte er seinen Arbeitskollegen, die aus seinen Erzählungen mitbekamen, dass er in Buchenwald Häftling gewesen war und fanden, ihm stünde dieser Luxus zu.
Szenen eines sowjetischen Lebens; sie könnten aus Trifonow`s Erzählungen stammen. Aus einem Gedicht von Jewtuschenko. Könnten ein Filmstill aus „Bahnhof für zwei“ sein. Takaja Zhizn.
In der Glasvitrine Souvenirs aus Weimar. Buchenwalder Gruppenfotos mit anderen ehemaligen Häftlingen. Der Leidensort ist über die Jahre hinweg zum Lebensort geworden. Nadezhda begleitet ihn zu den Jubiläen. Sie sieht Papa weinen. Stress.
Vater und Tochter sitzen am Küchentisch. Die Gaswerke geben keine Rabatte mehr für Veteranen. Krähen unten im Hof. Ein Schäferhund bewacht den Fleischkiosk. Schneeregen schraffiert den Blick zur Straße, wieder ein vergoldeter SUV. Wahrscheinlich immer derselbe.
Viele Fotos zeigen Alexander badend im Meer.
Alexander Bytschok ist am 27. März 2021 gestorben.
PS: Alexander, wenn ich Dir “Pojechali!” zurufe, dann weisst Du Bescheid.
© 2021 by Siegfried Ressel